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      Impressum:Redaktion und verantwortlich für den Inhalt: Gerd F. Müller
 
 Herausgeber:
 Münchner Familienkolleg - Geschäftsstelle Egenburg, Mühlstraße 6,
      D-85235 Pfaffenhofen/Glonn
 Tel.: 08134 / 92 363, Fax: 08134 / 92 365
 
 Copyright 1998 by Münchner Familienkolleg.
 Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung
      der Redaktion und des Junfermann-Verlags.
 Wir danken dem Junfermann-Verlag für die Erlaubnis zum Abdruck der
      nachstehenden Beiträge.
 
 
 
       Einleitung    
      Virginia Satir war in den 70er Jahren unsere wichtigste Lehrerin in den
      Bereichen Kommunikation, Selbstwert und Familientherapie. Wir beide hatten
      Erfahrungen in der Arbeit mit Familien, jedoch speziell mit Hilfe des
      verhaltenstherapeutischen Vorgehens. Als wir ca. 1970 das Buch "Peoplemaking"
      (der deutsche Titel "Selbstwert und Kommunikation" gibt die von
      Virginia kreierte englische Wortschöpfung leider auch nicht nur annähernd
      wider), wussten wir, was wir in unserer Arbeit mit Familien hinzufügen
      sollten. Diese Idee war die Vorstufe zur Gestaltung des Präventiven
      Elterntrainings PET (1976), des ersten Trainings in Deutschland für
      Familien, das sowohl lernpsychologische als auch kommunikative Bausteine
      zum Inhalt hatte.Zeitgleich lasen wir Virginias früher erschienenes Fachbuch - leider
      blieb es ihr einziges - "Conjoint Family Therapy" (1967),
      deutsch "Familienbehandlung". Wir versuchten - u. a. im Rahmen
      einer selbstorganisierten Peer-Gruppe - erste familientherapeutische
      Schritte und probierten die uns faszinierenden Ideen von Virginia einfach
      aus.
 Spannend, mitreißend, aufregend, erfrischend, anregend, erquickend,
      inspirierend, beflügelnd, humorvoll - um nur einige der Adjektive zu
      nutzen - verlief dann unser erstes persönliches Zusammentreffen mit
      Virginia. Es war 1974 in der Schweiz mit einer Gruppe von etwa 15
      Personen. Virginia lehrte uns einige Tage ihre Ideen von menschlicher
      Kommunikation. Eines Mittags luden wir sie zu einer Spazierfahrt in die
      Umgebung und zu einem Picknick im Grünen ein. Wir fanden recht schnell
      Kontakt zueinander, verstanden uns so als ob wir uns bereits seit Jahren
      kennen würden, alles geschah einfach und ganz natürlich - ohne Starallüren.
 So unspektakulär begann eine Jahre währende Freundschaft zwischen
      Virginia und uns. Wir besuchten sie in den folgenden Jahren in den USA,
      Kanada, Israel, Frankreich, Tschechoslowakei und Deutschland.
 In den ersten Jahren lernten wir von ihr durch Beobachten, Mitmachen in
      zum Teil vierwöchigen großen Seminaren. Erst viel später - weil uns der
      private Kontakt mit Virginia bedeutsamer war als der professionelle -
      luden wir sie dann zu großen Seminaren zu uns nach München ein. Mit
      jeweils ca. 90 Teilnehmern/innen zeigte sie 1983, 1985 und 1987 ihre
      Kreation der Familienrekonstruktion. Anlässlich unserer ersten
      Veranstaltung mit ihr wurden Aufnahmen zur Fernsehserie "Wege zum
      Menschen" gemacht. 1986 waren wir beide Trainer in der ersten europäischen
      Process Community.
 
 Der Einfluss von Virginia hat sich selbstverständlich auf die inhaltliche
      Gestaltung unserer dreijährigen Weiterbildung ausgewirkt. Von 1979 bis
      1994 nannten wir sie deshalb "Weiterbildung in strukturell- (Minuchin
      war ein weiterer wichtiger Lehrer) und wachstumsorientierter
      Familientherapie". Obwohl wir im Laufe der vergangenen 20 Jahre die
      inhaltlichen und methodischen Schwerpunkte entsprechend unserer eigenen
      therapeutischen und theoretischen Entwicklung wiederholt verändert haben,
      indem wir wichtige Elemente vor allem aus den systemischen Modellen und
      dem lösungsorientierten Ansatz in unsere therapeutische Praxis und Lehre
      aufnahmen, behielten wir die ursprüngliche Bezeichnung bei.
 1995 entschlossen wir uns dann, die methodischen Veränderungen auch im
      Namen der Weiterbildung zum Ausdruck zu bringen. Wir nennen sie jetzt:
      "Weiterbildung in systemischer Therapie und Beratung:
      Integrativ-systemisches Arbeiten mit Familien, Paaren und anderen sozialen
      Systemen."
 Wenngleich im aktuellen MFK-Weiterbildungsmodell die Vorgehensweisen von
      Virginia nur noch einen relativ geringen Anteil haben, bleibt für unsere
      Arbeit gleichwohl das Menschenbild Virginias wegweisend. Grundannahmen des
      lösungsorientierten Ansatzes weisen bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit
      Virginias Ideen auf.
 
 Zurück zu Virginia:
 Es gäbe viel über Virginia zu erzählen - Privates und Berufliches. Wir
      haben privat mit Virginia zahlreiche fröhliche und auch anstrengende Tage
      und Stunden in unserem Haus und bei Ausflügen verbracht. Wir hatten das
      Privileg, sozusagen unzensiert hinter die Kulissen zu schauen und dabei
      nicht nur die unermüdlich erscheinende "Promotorin" zu sehen,
      sondern Facetten des  Menschen
      Virginia kennenzulernen.
 
 Die folgenden Artikel sollen bei denjenigen, die Virginia erleben konnten,
      Erinnerungen wachrufen, bei jenen, die sie "nur" aus Büchern
      und Videoaufnahmen kennen, das Bild ergänzen helfen und ein Zeichen
      unserer Wertschätzung für Virginia sein.
 Gaby Moskau und Gerd F. MüllerVirginia-Satir-Gesellschaft e.V.
 
 Gerd F. Müller und Gaby Moskau:Ein Portrait von Virginia Satir:
 26. Juni 1916 - 10. September 1988
Quellenangabe:Dieser Artikel erschien in Maria Bosch, Wolfgang Ullrich (Hrsg.):
 Die entwicklungsorientierte Familientherapie nach Virginia Satir.
      Junfermann-Verlag Paderborn, 1989.
     Virginia
    Satir, die große und berühmte Pionierin der Familientherapie, ist am 10.
    September 1988 in Palo Alto gestorben. Viele waren überrascht, als sie hörten,
    daß sie bereits 72 Jahre alt war. Ihre Beweglichkeit, ihre Leichtigkeit,
    ihr Charme und die immer von ihr ausstrahlende Lebensfreude, vermittelten
    den Eindruck einer Frau mittleren Alters und manchmal schien sie alterslos
    zu sein.Wir lernten Virginia 1974 in der Schweiz kennen. Während eines Spaziergangs
    und einem Picknick schwärmte sie von ihrer Idee einer Welt-Universität,
    die sie gründen wollte. Seit diesem denkwürdigen Spaziergang hat Virginia
    sowohl unser privates als auch unser professionelles Leben nachhaltig
    beeinflusst. Diese einzigartige Frau, unter anderem als weiblicher
    "Kolumbus der Familientherapie" bekannt, schätzten wir als
    Lehrerin, Schriftstellerin, Künstlerin, Zauberin, Animateurin,
    Schauspielerin, Komödiantin, bescheidene Frau, Weltreisende in Sachen
    Selbstwert und Kommunikation und vieles mehr. Viele Teile und Gesichter
    lernten wir in den vergangenen 14 Jahren kennen - als Lernende in ihren
    Seminaren im In- und Ausland und als Veranstalter ihrer Seminare am Münchner
    Familienkolleg. 1985 inszenierten die Teilnehmer eines ihrer Workshops bei
    uns zum Abschluss eine riesige Parts Party für Virginia und repräsentierten
    etwa 75 Teile ihrer Persönlichkeit in lustiger und kreativer Weise. Während
    einer solchen "Party" - die Virginia für therapeutische Arbeiten
    entwickelte - hat eine Person die Gelegenheit, gegensätzliche Teile ("parts")
    der eigenen Persönlichkeit in einem Prozess ("party") zu erleben
    und zu integrieren, um sie harmonischer nutzen zu können. Wir möchten in
    diesem Artikel Virginias Vielseitigkeit in Anlehnung an die Parts Party
    ansatzweise darstellen:
 
 Virginia - die Mitbegründerin der Familientherapie und schöpferische
    Therapeutin    
    Die Familientherapie hat mehrere Väter; doch ihre einzige Mutter ist
    Virginia! Sie war die erste maßgebende Frau in diesem Bereich und ein
    wichtiges Rollenmodell für viele Frauen, die in den späteren Jahren im
    weiten Feld der Familientherapie folgten. John Weakland (1983)
    sagte:"... ich möchte etwas ... hervorheben, das ich beobachtet habe
    und was für mich eine überraschende Entdeckung war. Etwas, worin Virginia
    sehr Don Jackson ähnelt ... Bis ich die beiden kennenlernte, wusste ich
    nicht, dass das Wort Promotor eine so positive Bedeutung haben könnte.
    Virginia und Don sind beide Promotoren. Wenn es sie nicht gegeben hätte, gäbe
    es vielleicht die Familientherapie als Behandlungstechnik, aber sie hätte
    nicht diese weitreichende Bedeutung erlangt."Virginia war die berühmte Sozialarbeiterin, die in den 50er Jahren als
    einzige Frau in der therapeutischen und wissenschaftlichen Männerwelt den
    Mut hatte, Risiken einzugehen, um Neues in Bezug auf Individuen und Familien
    auszuprobieren. 1951 eröffnete sie eine private Praxis und "sah"
    ihre erste Familie. Sie erzählte darüber: "Ich war eine Frau und
    hatte keine medizinische Ausbildung, deshalb kamen hauptsächlich Leute zu
    mir, die entweder von anderen Therapeuten weggeschickt oder die als schwer
    therapierbar eingestuft wurden." Irgendwann in den folgenden Jahren
    "erfand" sie zufällig die multiple Familientherapie, als sie
    versehentlich mehrere Familien zur gleichen Zeit einbestellte. 1955
    arbeitete sie am Illinois Psychiatric Institute und brachte den Mitarbeitern
    "die neuen Ideen" nahe: nicht nur mit einzelnen Patienten, sondern
    zusammen mit ihren Familien zu arbeiten. 1959 gründete sie gemeinsam mit
    Jules Riskin und Don Jackson das Mental Research Institute in Palo Alto und
    startete 1962 das erste Familientherapie-Trainingsprogramm in den USA.
 
 Zwischen 1964 und 1968 lehrte sie am Esalen Institute in Big Sur, dessen
    Direktorin sie 1968 wurde. 1972 begann sie ihre Arbeit mit Familiengruppen
    in ein- bis zweiwöchigen Camps in freier Natur und mit Tiyspaye-Indianern
    in Süd-Dakota. 1977
    gründete sie das Avanta-Network, "a university for becoming more fully
    human". Ihr
    Ziel war, Kollegen aus verschiedenen Ländern einzuladen, die sich mit ihrem
    Welt- und Menschenbild verbinden konnten und bereit waren, diese Ideen zu
    unterstützen und weiterzugeben. In den siebziger Jahren publizierte die
    "Group for the Advancement of Psychiatry" einen Bericht über
    Familientherapie in den USA. Virginia wurde als einflussreichste Therapeutin
    unter 21 bekannten Namen genannt.
 Sie brachte in ihren Therapien und Seminaren ihren ganz speziellen Genius
    ein, benutzte Methoden, die sie selbst kreierte und die inzwischen weltweit
    angewendet werden, wandelte Ideen anderer Therapeuten und Schulen so um, 
    dass
    sie spielerisch und wohlgeformt zu ihrer Art passten. Deshalb war es nicht
    immer leicht, ihre angewandte Methode oder Technik zu konzeptualisieren.
 Virginia forderte immer wieder durch ihre einfachen und kraftvollen Fragen
    heraus. "Wo hast du das gelernt? Wer hat dich das gelehrt? Wann hast du
    diese Entscheidung gefällt?" Danach erwiderte sie: "Das ist dir
    nicht angeboren; du hast Wahlmöglichkeiten!"
 Und dann sprach sie von Wachstum, Veränderung, "healing". Jeder
    Person gab sie Nahrung für ihr Selbstwertgefühl, übermittelte gezielt
    schlicht gehaltene Informationen - verbal und mit Hilfe von Bildern -,
    zeigte Perspektiven für die weitere Entwicklung und Arbeit auf. So war sie
    für jeden nährende Mutter und überzeugende Wegweiserin zu neuen Pfaden.
 
 Virginia - die begeisternde und mitreißende Lehrerin    
    Virginia verstand sich immer auch als Lehrerin, die anderen Menschen dabei
    half, humaner mit
    sich selbst und anderen umzugehen. Wenn sie lehrte, brachte sie Energie,
    Hoffnung, Humor, Freude, emotionale Wärme, Sicherheit Leichtigkeit,
    Erregung, Toleranz und Intuition mit. Sie lehrte direkte und klare
    Kommunikation, stärkte das Selbstwertgefühl einzelner und regte Menschen
    an, ihre Unterschiedlichkeiten zu honorieren und zu akzeptieren: "Wenn
    ich aufhöre, andere zu be- und verurteilen, kann ich anfangen, sie zu
    entdecken."Gerade in den letzten Jahren wurde ihr immer wieder vorgeworfen, dass sie
    keine Theorie bezüglich ihrer Art zu arbeiten entwickelt habe. Es ist
    richtig: Theoretische Fragen theoretisch zu beantworten oder Theorien
    vorzutragen, war nicht ihre Stärke. Sie war an Menschen interessiert, an
    ihrer Kommunikation und ihren Beziehungen. Im Nu brachte sie die Theorie
    "in Aktion", wandelte das bloße Darüberreden in tun und Erleben.
    Auf Fragen reagierte sie oft mit dem Satz: "Ich möchte euch etwas
    zeigen ..." und begann mit Hilfe von Skulpturen und rasch gestellten
    "Bildern" ihre Antwort zu geben. Dabei begab sie sich meist
    vollkommen in eine Situation hinein, ging in ihrer Idee auf, war in Trance
    und bediente sich jeglicher Ressourcen, die sie besaß. Ihre immer wieder
    neu fesselnde Arbeitsweise basierte auf der einfach klingenden
    humanistischen Philosophie: "Jeder Mensch ist ein einzigartiges Wunder
    (basic miracle), in ständiger Entwicklung begriffen und fähig,
    kontinuierlich zu wachsen, sich zu verändern und zu lernen."
 Vor einer Therapiesitzung mit einer Familie sagte sie zu den beobachtenden
    Teilnehmern (1987): "Jetzt im Moment repräsentieren die
    Familienmitglieder all die Erfahrung, die so vorher gemacht haben. So wie
    sie heute sind, waren sie nicht schon immer. Wenn Menschen zu uns in
    Therapie kommen, begegnen wir also immer dem, was sie gelernt haben. Und das
    ist eine ganz wichtige Sache: In der Therapie sollen Menschen lernen, was
    sie gelernt haben. Erst dann können sie zu lernen beginnen, wie sie sich
    verändern können um letztlich unterschiedliche Ergebnisse zu
    bekommen."
 
 Virginia - die Regisseurin, Schauspielerin und Komödiantin    
    Was sie auch tat, sie war immer "auf der Bühne". Virginia hatte
    großes Charisma: Alle Augen und Ohren folgten ihr, rasch fühlte sich fast
    jeder in ihren Bann gezogen, in seinen Empfindungen angesprochen, getroffen,
    berührt, mit ihr und anderen verbunden und mitgerissen von ihren einfachen,
    eingängigen Aussagen, Bildern und positiven Umformulierungen. Sie brachte
    Leichtigkeit und Humor in die Arbeit mit Familien, einzelnen und Gruppen,
    hatte großes Talent, Witze zu erzählen, zu lachen, Situationen "juicy"
    und abenteuerlich zu gestalten. Sie war ein Genie in der Inszenierung sowohl
    komischer als auch tragischer Aspekte einer Familiengeschichte und sie
    zelebrierte dabei das Spielen signifikanter Szenen mit großer Freude. Während
    sie über ein Familienereignis in lebhaften Worten und mit Anekdoten
    verziert sprach, begann sie, den Klienten in eine Skulptur zu formen oder
    mit Stricken zu umwickeln. Oder zu tun, was immer ihr im Augenblick passend
    erschien, um metaphorisch zu zeigen, wie ein Mensch in seinem Körper die
    Einengungen seiner Regeln erfährt. Virginia arbeitete meist im Stehen und räumlich
    sehr nahe an den Personen. Sie nahm sich die Freiheit, kontinuierlich in Körperkontakt
    zu sein: Sie hielt ihr Gegenüber an der Hand, spielte mit den Fingern,
    legte eine Hand auf den Arm, nahm den Kopf zärtlich in ihre Hände und
    streichelte liebevoll über die Haare oder sie umarmte die Person. Sie hatte
    bereits vor fünfundzwanzig Jahren - als Frauen noch nicht über den Status
    wie heute verfügten - den Mut, ihre weichen, weiblichen Teile voll
    einzusetzen. Schmunzelnd und sich selbst dabei kommentierend, durchbrach sie
    zahlreiche "therapeutische" Tabus. Welch einen anderen Therapeuten
    hat man jemals so natürlich und selbstverständlich eng und intensiv beim
    Klienten gesehen?
 Virginia - die ausdauernde Entdeckerin    
    Sie war eine geduldige, energievolle, Schritt für Schritt vorgehende
    Therapeutin. Sie hatte die Fähigkeit, minutiöse Details zu sehen und zu hören.
    Sie vertraute ihrem unfehlbaren Instinkt, der ihr Wege öffnete, die noch
    kein anderer beschritten hatte. Und es war ihr einzigartiges Geschick, aus
    losen Teilen ein harmonisches Muster zu weben. Sie sagte einmal über sich:
    "Meine Techniken sind sehr variabel und davon abhängig, welche Veränderungen
    notwendig sind. Was ich nicht habe, erfinde ich. ich will meine Arbeit
    dynamisch, relevant und zeitgemäß gestalten. Meine Theorie und Praxis
    basieren auf der Idee, dass ich Menschen helfe, ihre Ressourcen zu
    entwickeln und dass ich Klinikern helfe, dasselbe mit Menschen zu tun, mit
    denen sie arbeiten."
 Virginia - die Magierin    
    Wenn sie mit einer Familie oder Gruppe arbeitete, konnte sie Verbindungen knüpfen
    wie keine andere. Bemerkte sie Widerstand, ging sie mit außerordentlichem
    Geschick "hindurch"; dies geschah oft so rasch und scheinbar ohne
    Anstrengung, dass manchmal die Grenze zur Magie überschritten schien. Jeder
    Zuschauer war so in ihren Bann gezogen, ihr Vorgehen im Moment so
    phantastisch und unbegreiflich zugleich, so dass es gedanklich schwer
    nachvollziehbar war. Ähnlich zauberhaft gelang es ihr, eine negative
    Situation oder ein ungünstiges Ereignis in etwas Positives umzuwandeln und
    gleichsam einen neuen positiven Rahmen zu schaffen.
 Virginia - die Innovatorin    
    Bereits Anfang der sechziger Jahre konnte sie aus einem reichen
    Erfahrungsschatz schöpfen und entwickelte ihre inzwischen bereits zum
    Klassiker gewordene Methode der "Familien-Rekonstruktion":
    Virginia vereinigte in diesem Prozeß Elemente von Psychodrama, Gestalt,
    Skulpturarbeit, Kommunikation, Hypnose, Phantasie und liebende Fürsorge für
    den anderen.
 All dies stellte sie in den Rahmen der Systemtheorie: Sie war der Ansicht,
    dass ein Dreigenerationen-Blick nötig sei, um Familiensysteme verstehen zu
    können. Während der Familien-Rekonstruktion werden Regeln, Mythen, Gefühle
    von Verbundenheit und Ausgeschlossensein durchsichtig und verständlich
    gemacht. Der "Star" (die Person, die ihre Familien-Rekonstruktion
    macht) wird dazu geführt, "blinde Flecken" und Rätsel seiner
    Familiengeschichte aufzuhellen, das Menschsein seiner Eltern zu verstehen
    und den Weg zu seinem eigenen Wachstum zu ebnen.
 In den langen Jahren ihres Wirkens entwickelte sie nicht nur eigene neue
    Arbeitsmethoden, sondern inspirierte auch andere, Neues zu schaffen: Richard
    Bandler und John Grinder beobachteten wochenlang Videoaufnahmen und
    live-Sitzungen von Virginia und schälten die spezifischen Elemente und
    Muster heraus, die zur Veränderung bei Klienten führten. Sie gaben
    Virginias Magie eine Struktur und schlüsselten die Techniken so auf, dass
    sie für Therapeuten erlernbar wurden. Virginias Arbeit (und die von
    Erickson und Perls) bildeten die Grundlagen zur Entwicklung des
    neurolinguistischen Programmierens.
 
 Virginia - die unermüdliche Weltreisende    
    In den letzten 20 Jahren bis zu ihrem Tode reiste Virginia fast das ganze
    Jahr über unermüdlich auf allen Kontinenten, um ihre Ideen über den
    "humanen Menschen" und den Frieden zwischen den Menschen und den Völkern
    zu verbreiten. Im Kontakt mit zahllosen Personen in Seminaren von dreißig
    bis tausend und mehr Zuhörern vermittelte sie ihre Sicht von Familie,
    Therapie, Wachstum, Kongruenz, Kontakt, Humanität und Selbstwert. Sie gab
    den Menschen im Auditorium sehr viel von ihrer Person und zugleich tankte
    auch sie Energien auf, indem sie mit Gruppen arbeitete. Rastlos von einem
    Land zum anderen, von Kontinent zu Kontinent ziehend, schien es in den
    letzten Jahren so, als ob sie keinerlei Zeit verlieren wollte. Gleichsam wie
    eine Missionarin, verbreitete sie ihre Ideen und Lehren und versuchte, möglichst
    viele Menschen zu erreichen. Dabei hatte sie die Hoffnung, daß dadurch ihre
    Arbeit weltweit multipliziert und in einigen Jahrzehnten zum Wandel der
    Gesellschaften vom hierarchischen zum organischen Denken und Handeln
    beitragen werde.Virginia war Beraterin von Organisationen, Institutionen, Politikern und
    Mitglied zahlreicher Verbände. Im Mai 1987 war sie in Prag Präsidentin des
    ersten internationalen Familientherapie-Kongresses in einem sozialistischen
    Land. Ihre letzte große Reise führte sie in die Sowjetunion, so erfüllte
    sich im Ansatz einer ihrer Wünsche: In den nächsten Jahren wollte sie
    vermehrt in östlichen Ländern lehren.
 
 Virginia - die Schriftstellerin    
    Obwohl sie so viel reiste, fand sie zwischendurch noch Zeit, einige Bücher
    zu schreiben. Allerdings erschienen ihre beiden wichtigsten bereits 1964 und
    1972: "Conjoint Familiy Therapy" (1964) ist die Essenz ihrer
    Pionierjahre 1951 bis 1963, ein Muss für jeden Familientherapeuten; ein
    Buch, das in den 60er und 70er Jahren sehr dazu beigetragen hat, das Feld für
    die Familientherapie zu ebnen. "People Making" (1972), das wohl
    bekannteste unter ihren Büchern, ist eher für Laien geschrieben und legt
    den Schwerpunkt vor allem auf den Bereich der Kommunikation in der Familie.
    Kurz vor ihrem Tod ging eine gründlich überarbeitete und um mehrere neue
    Kapitel erweiterte Neuauflage in Druck: "The New People Making"
    (1988). 1984 veröffentlichte sie gemeinsam mit Michele Baldwin "Step
    by Step", ein Buch, in dem ihre therapeutische Arbeit mittels
    Transkripten deutlich wird. (Weitere Veröffentlichungen: siehe
    Literaturverzeichnis.)
 Virginia - die spirituelle Frau    
    Manchem Teilnehmer erschien es ungewöhnlich, dass in einem
    familientherapeutischen Seminar das Thema Spiritualität angesprochen wurde.
    Virginia glaubte, dass Spiritualität unsere Verbindung mit dem Universum
    darstelle und die Grundlage unserer Existenz sei. Sie verstand Wachstum als
    eine Manifestation des Geistes und als eine sich selbst offenbarende
    Lebenskraft. Sie war davon überzeugt, dass Menschen an der universellen
    Intelligenz und Weisheit durch Meditation, Gebet, Entspannung, Bewusstsein,
    Entwicklung eines hohen Selbstwerts und Ehrfurcht vor dem Leben teilhaben können.
    Mit Hilfe Ihrer Meditations- und Zentrierübungen leitete sie Teilnehmer an,
    innere Ruhe zu finden, sich selbst Anerkennung zu geben und positive neue
    Lebensansätze zu entwickeln.
 Virginia - die visionäre Friedensarbeiterin    
    Seit Mitte der siebziger Jahre ist Virginia in ihrer Arbeit über die
    Familientherapie hinausgegangen. Sie verknüpfte ihre therapeutischen Ideen
    mit Anliegen des Human Potential Movement und der Friedensbewegung. Ihre
    Vision war der Weltfrieden und sie verstand ihre Arbeit als Friedensarbeit.
    Manche Kollegen kritisierten und belächelten Virginia wegen ihres
    Engagements und warfen ihr vor, die Familientherapie im Stich gelassen zu
    haben. Doch ihre These war einfach und logisch:"Wenn wir unsere Kinder in einem friedlichen Kontext erziehen, in dem
    die Erwachsenen kongruentes Verhalten vorleben, dann werden die Kinder
    friedfertige Erwachsene werden, die ihrerseits eine friedvolle Welt schaffen
    werden. Die Herausforderung unserer Zeit besteht vor allem darin, alte
    Muster zu unterbrechen, die zum Unfrieden zwischen Menschen und Völkern geführt
    haben. Wir sollten unsere Energien nutzen und neue Muster entwickeln, mit
    denen wir uns gegenseitig unterstützen können. Der Krieg als Mittel zur
    Konfliktlösung gehört jetzt ins Museum."
 
 Virginia - die bescheidene Frau aus Wisconsin    
    Trotz  ihrer Berühmtheit war
    sie bescheiden und dankbar für jede kleine Aufmerksamkeit. Sie ließ sich
    wenig Ruhe und konnte nur schwer nein sagen, wenn jemand Hilfe und Zeit von
    ihr wollte. Manchmal hatte dies auch zur bitteren Folge, dass andere sie
    ausnutzten oder ihren Namen missbrauchten. Sie wusste dies, fühlte sich
    verletzt, wollte aber damit nicht umgehen.Liebend gern ging sie einkaufen, ob es sich nun um die Suche nach ganz
    bestimmten Knöpfen handelte oder um schöne Stoffe. Manche ihrer Kleider nähte
    sie selbst. Wir haben kein Seminar mit ihr erlebt, wo sie nicht abends an
    irgendeinem Rock oder einer Bluse Änderungen anbrachte.
 Wenn sie bei uns war, entspannte sie sich, indem sie im Garten jätete,
    Pflanzen trimmte, Hemden bügelte, in der Küche half und sich für
    Kochrezepte interessierte. Sie legte Patience, praktizierte Atem- und Jogaübungen,
    ließ sich gern massieren und genoss "sightseeing". Zeitweise war
    die Unterhaltung mit ihr anstrengend, weil sie viel und intensiv erzählen
    konnte und unversehens wieder weiterlehrte. Zwischendurch sprach sie davon,
    wie einsam sie sich manchmal fühlte, ohne Partner, ohne Familie. Irgendwann
    in der Zukunft wollte sie das ändern; doch wenn sie dies sagte, wusste
    jeder, dass es eine Illusion war. Sie war sich bewusst, dass dies ein Teil
    des hohen Preises war, den sie für ihre rastlose Lehrtätigkeit zahlen musste.
 
 Virginias Vermächtnis    
    Virginia hat eine Vielzahl von Techniken und Methoden geschaffen und für
    die Familientherapie nutzbar gemacht: Ihre Kunst des Reframings, Darstellung
    von Kommunikationsformen, Skulpturarbeit, Regeltransformation, Selbst- und
    Fremdwahrnehmungsübungen, Zentrierübungen, Meditationen, die Konzepte über
    Selbstwert, Wachstum, Triaden, Familien-Rekonstruktion, Parts Party. Diese
    Schätze sind inzwischen feste Bestandteile des Repertoires nicht nur
    Satirscher Familientherapeuten geworden. Vorherrschend bleibt jedoch für
    alle, die sie erleben, nicht das Was, sondern das Wie ihrer Arbeit. Ihr
    Respekt vor Menschen, ihr Bemühen, den Selbstwert eines jeden zu stärken
    und Kontakt zwischen Menschen herzustellen, das Vertrauen in die Macht
    kongruenter Kommunikation, wird ideell weiterwirken. In einem Seminar sagte
    sie: "Wenn ich eine Botschaft habe, eine Botschaft, die ich an so viele
    Menschen wie möglich weitergeben möchte, bevor ich sterbe, so ist es
    diese: Ein Ereignis bestimmt nicht allein, wie ich darauf reagiere. Jeder
    kann Wahlmöglichkeiten des Reagierens lernen, die ein Ereignis beeinflussen
    und lenken können. Das heißt, daß der Umgang mit einem Ereignis
    ausschlaggebend ist und nicht das Ereignis an sich."Ihr Buch "Your Many Faces" (1975) endet mit der Ermutigung:
    "Ich wünsche Dir alles Gute auf Deinem Weg, das Wunder, das Du bist,
    immer wieder neu zu entdecken. Ich sende Dir liebende und fürsorgliche
    Botschaften, die Dich ermutigen sollen, immer wieder aufs Neue Risiken in
    Deiner Entwicklung einzugehen."
 
 1969 schrieb sie an ihren Bruder:
 "Wenn ich morgen gehen sollte, möchte ich, dass Du und die anderen
    Familienmitglieder sich treffen, ein Fest feiern und sich mehr darüber
    freuen, dass ich gelebt habe als zu trauern, dass ich gestorben bin."
    Ihre Abschiedsworte einige Tage vor ihrem Tod waren: "--- mein Leben
    ist reichhaltig und erfüllt gewesen und so kann ich mit dem Gefühl großer
    Dankbarkeit gehen. "Wir fühlen uns mit Virginias Arbeit und mit ihrer
    Art und Weise, mit Menschen umzugehen, tief verbunden. In unseren
    jahrelangen Kontakten mit ihr, haben wir neben den hier vorgehobenen Teilen
    auch andere kennengelernt: Ihren Widerwillen, mit Ärger umzugehen, manche
    Unzulänglichkeiten in ihrem eigenen Leben, ihre Rastlosigkeit. Doch all
    dies war zweitrangig: Virginia gehörte dem Universum und sie konnte vieles
    nicht auf "normale" Weise machen. Sie hatte den Mut, unbekannte
    Wege zu beschreiten; und immer brachte sie neue Schätze zutage. Die
    Erinnerungen an ihre Lebensfreude, Kraft und Kreativität werden unser Leben
    und unsere Lehre weiterhin inspirieren.
 
 
 Literatur:
 Satir, V. (1964, 1967, 1983): Conjoint Family Therapy. A Guide to Theory and
    Technique. Palo Alto, Cal.: Science and Behavior Books.
 Deutsch:
    (1979) Familienbehandlung. Kommunikation und Beziehung in theorie, Erleben
    und Therapie. Freiburg:
    Lambertus-Verlag.
 -,(1970, 1975): Self Esteem, Berkely, Cal.: Celestial Arts. Deutsch:
    (1988) Grund zum Feiern! Ein Gedicht mit Bildern über dich, mich, uns alle.
    Wessobrunn:
    Integral Verlag.
 -, (1972): People making. Palo Alto, Cal.: Science and Behavior Books. Deutsch:
    Selbstwert und Kommunikation. München: Pfeiffer-Verlag.
 -, (1976): Making Contact. Berkely,
    cal.: Celestial Arts.
 -, (1978): Your Many Faces. The First Steps to Being Loved. Berkely, Cal.:
    Celestial Arts. Deutsch:
    (1988) Meine vielen Gesichter. Wer bin ich wirklich? München: Kösel-Verlag.
 -, Baldwin, M. (1984): Step by Step. A
    Guide to Creating Change in Families. Palo Alto: Science and Behavior Books.
    Deutsch:
    (1988) Familientherapie in Aktion. Paderborn: Junfermann-Verlag.
 -, (1985): Meditations & Inspirations. Berkeley,
    cal.: Celestial Arts.
 -, (1988): The New People Making. Mountain View, Cal.: Science and Behavior
    Books.
 
 Die
    Zitate entstammen aus persönlichen Mitteilungen und eigenen Mitschriften in
    Seminaren des Münchner- Familienkollegs: 10 Tage Familien-Rekonstruktion
    mit V. Satir (1983, 1985, 1987).
 Das Zitat von John Weakland stammt aus dem Fernsehfilm "Virginia Satir:
    Die fünf Freiheiten" in der Reihe "Wege zum Menschen", Südwestfunk
    Baden-Baden 1983.
 
 
 
 
 Gaby Moskau, Gerd F. Müller (Hrsg.)Vorwort zu "Virginia Satir - Wege zum Wachstum.Ein Handbuch für die therapeutische Arbeit
 mit Einzelnen, Paaren, Familien und Gruppen."
Quellenangabe:Dieser Artikel erschien in
 Gaby Moskau, Gerd F. Müller (Hrsg.):
 Virginia Satir - Wege zum Wachstum.
 Ein Handbuch für die therapeutische Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien
    und Gruppen. Junfermann-Verlag Paderborn, 1992.
 
      Dieses
    Buch ist in Erinnerung an Virginia Satir (1916-1988) entstanden. Wir lernten Virginia 1974 kennen und
    in den folgenden 14 Jahren kreuzten sich unsere Wege immer wieder, in den
    USA, in Kanada, Israel und Europa. Dabei entwickelten wir uns von staunenden
    Bewunderern ihrer Magie zu kritischen Beobachtern ihrer Arbeit, von
    Lernenden zu mit ihr Lehrenden. Mit der Zeit wuchs zwischen uns eine
    freundschaftliche Beziehung, die bei jedem erneuten Zusammentreffen, wie
    nach einer kurz unterbrochenen Unterhaltung, weitergesponnen wurde.Virginia Satirs Platz in der Familientherapie "ist außergewöhnlich
    und einzigartig" (Hoffmann 1982, S. 226): Sie war die berühmte
    Sozialarbeiterin, die in den 50er Jahren als einzige Frau in einer
    medizinischen und wissenschaftlichen Männerwelt den Mut hatte, neue Wege
    der Therapie zu beschreiten. In den siebziger Jahren publizierte die
    "Group for the Advancement of Psychiatry" einen Bericht über
    Familientherapie in den USA. Damals wurde Virginia als einflussreichste
    Therapeutin unter 21 bekannten Namen genannt.
 Ein Leben lang war sie darum bemüht, Verbindungen zwischen Menschen zu
    schaffen und Veränderungen in Individuen, Familien, Gruppen, der
    Gemeinschaft und auf internationaler Ebene zu bewirken. 1981 wollte sie mit
    Israelis und Arabern arbeiten, doch dieses Anliegen konnte leider nicht
    verwirklicht werden. Einer ihrer großen Wünsche, in der UdSSR zu lehren,
    erfüllte sich anlässlich ihrer letzten Reise im Sommer 1988 kurz vor ihrem
    Tod. Laura Dodson, die Autorin des Kapitels "Der Prozess der Veränderung"
    begleitete sie damals und führt Virginias Arbeit heute in der GUS fort.
    Eine ausführliche Würdigung Virginias ist in Müller und Moskau (1989) zu
    finden.
 Beeinflusst vom Human Potential Movement der sechziger Jahre, glaubte
    Virginia, daß das Konstrukt Liebe (Otto 1972, S. 9) essentiell für den
    Prozess der Arbeit mit Menschen ist. Sie war der Meinung, daß Menschen
    Manifestationen positiver Lebensenergien im Sinne Kierkegaards, Heideggers
    und Bubers sind, und dass diese Energien aktiviert werden können, um
    dysfunktionale Verhaltensweisen zu transformieren. In jeglichem Verhalten -
    und sei es noch so destruktiv - erkannte sie einen positiven Kern, den sie
    freizulegen suchte. Sie vertrat die Ansicht, dass unsere Welt auf einem
    hierarchischen Ursache-Wirkung-Denkmodell beruht, das linear, einengend,
    verurteilend und bestrafend ist und keinen Raum für persönliche
    Entwicklung zulässt. Aufgrund dieser Überlegungen entwickelte sie ihr
    systemisches "Wachstumsmodell", um die Einzigartigkeit eines jeden
    Menschen im Kontext zu würdigen. Das Wachstumsmodell bezieht sich auf die
    Prinzipien Gleichwertigkeit (equality) von Menschen, Wertschätzung und
    einer lebenslang währenden Fähigkeit zur Veränderung: Menschen können
    ihren Selbstwert aus dem Vertrauen in den Prozeß der stetigen Veränderung
    und des persönlichen Wachstums gewinnen. Auch wenn äußerer Wandel durch
    ungünstige Umstände begrenzt ist, gibt es die Möglichkeit zur inneren Veränderung.
    Jeder Mensch besitzt bereits alle Ressourcen, die er benötigt, um sich zu
    entwickeln und zu wachsen. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, die Quellen
    freizulegen. Menschen sind von Natur aus gute Wesen. Diese Grundüberzeugungen
    leiteten Virginia, den Fokus ihrer Arbeit immer auf die Nutzung positiver
    Energien, Gesundheit, Entwicklung von Wahlmöglichkeiten und kongruente
    zwischenmenschliche Kommunikation zu legen. Virginia hat die
    Familientherapie um eine Vielzahl von Interventionen bereichert: Ihre Kunst
    des Reframings, Familien-Rekonstruktion, Parts Party, Skulpturarbeit,
    Regeltransformation, die Darstellung der fünf Kommunikationsformen, Selbst-
    und Fremdwahrnehmungsübungen, Zentrierübungen, Meditationen, die Konzepte
    über Selbstwert, Wachstum, Triaden, Kongruenz. Vieles davon hat inzwischen
    auch in das Repertoire nicht nur Satirscher Familientherapeuten Eingang
    gefunden.
 Virginias vorrangiges Bestreben war es, Menschen zu befähigen, ihre eigenen
    Kräfte in Besitz zu nehmen, ihren Selbstwert zu erhöhen und den direkten,
    authentischen Ausdruck von Gedanken und Gefühlen in der systemischen
    Interaktion im Hier und Jetzt zu fördern. Sie sprach von der Wichtigkeit,
    auch kognitive Fähigkeiten anzuerkennen und zu nutzten; oft sagte sie, um
    dies hervorzuheben: "From my head to yours"... und berührte dabei
    sowohl ihre Stirn als auch die des Protagonisten. Virginia versuchte stets,
    anderen neue Sichtweisen über sich und die Welt zu eröffnen, "Dinge
    anders zu betrachten", "unter einem neuen Gesichtspunkt zu
    sehen" oder "andere Faktoren ins Kalkül zu ziehen" (Andreas
    und Andreas 1985, S. 14). Der "Rahmen" wird also verändert,
    innerhalb dessen der Protagonist Ereignisse wahrnimmt, so daß den
    Ereignissen eine andere Bedeutung gegeben werden kann. Dieses Reframing (Bandler
    und Grinder 1985) hat Virginia zur hohen Kunst in der Familienrekonstruktion
    und Parts Party entwickelt.
 Vorherrschend bleibt jedoch für alle, die sie erlebten, nicht das Was,
    sondern das Wie ihrer Arbeit: sie begegnete jedem mit Gefühl, Wärme und
    Zuversicht. Ihr sprühender Humor, ihr "Showmanship", ihr unermüdlicher
    Einsatz und ihre Vielseitigkeit waren legendär. Sie konnte Bitten um
    Unterstützung nur schwer abschlagen und arbeitete häufig bis zum Rande der
    Erschöpfung.
 
 Doch sie ist auch immer wieder kritisiert worden: Ihre Konstrukte wurden als
    zu vage und als nicht operationalisierbar bemängelt. Doch dem stellte
    Virginia entgegen: "Es gibt wesentlicheres im Leben (und in der
    Therapie) als das, was gemessen und beobachtet werden kann" (Satir
    1983). Virginia war Praktikerin und an Forschung kaum interessiert. Sie war
    sehr belesen und integrierte Ideen verschiedener theoretischer Richtungen
    auf originelle und kreative Weise in ihre Arbeit. Authentische persönliche
    Erfahrungen, die sie in ihrer Arbeit initiierte, lassen sich nicht direkt
    messen; die anschließende Befragung oder Testung gibt nicht das wirkliche
    "encounter"-Erlebnis wider. Trotz alledem: Es ist dringend
    angezeigt, ihre und die Konzepte anderer wachstumsorientierter Therapeuten
    (Whitaker, Kempler, Bowen) empirisch zu überprüfen. Ansonsten bleibt möglicherweise
    nur die Erinnerung an einmalige Schöpfungen der mit Mystik umgebenen
    Primadonnen ihres Fachs.
 Kreativität, Spontaneität, Klugheit und rasche Auffassungsgabe sind sicher
    die meist erwähnten Stärken von Satir, die zugleich auch Herausforderungen
    an den wachstumsorientierten Therapeuten darstellen. Ihre Interventionen und
    Werkzeuge erfordern auf Seiten des Therapeuten die Bereitschaft und Fähigkeit,
    sich aktiv, direkt und persönlich am systemischen Prozess zu beteiligen.
    Das setzt voraus, dass er sorgfältig darauf achtet, die eigene Person
    weiter zu entwickeln, eigene Stärken anzuerkennen und sie zu benutzen.
    Desgleichen ist das Wissen über die "Fallen" des eigenen
    Ursprungssystems und der "blinden Flecken" notwendig, um sich als
    Instrument zur Begleitung des Veränderungsprozesses optimal nutzen zu können.
    Wir stellen in diesem Buch einige der therapeutischen Interventionen dar,
    die Virginia hinterlassen hat. Dabei sind wir uns bewusst, dass eine eindimensionale Darstellung niemals Satirs Präsenz und das eigene
    Erleben ersetzen kann, und dass die Beiträge der Komplexität und dem
    Detail ihrer Interventionen nur annähernd gerecht werden können.
 Alle Autoren haben Virginia persönlich erlebt, manche über viele Jahre,
    andere bei einzelnen Seminaren, die sie in Europa und den USA veranstaltete.
    Die verschiedenen Beiträge reflektieren die Umsetzung der Satirschen Ideen
    in die jeweilige Praxis der Autorin oder des Autors.
 Wir möchten mit einem Zitat von Steve Andreas schließen: "Zu großartiger
    Arbeit bedarf es sowohl der Werkzeuge des Berufsstandes als auch der Vision
    und der Menschenliebe, diese Werkzeuge passend einzusetzen. Virginia Satir
    demonstrierte eine außerordentliches Maß von beidem. Wenn wir ihren Genius
    ehren wollen, weiß ich keinen besseren Weg, als ihre Arbeit sorgfältig zu
    studieren und daraus zu lernen, was sie auf so wunderbare Art machte"
    (Andreas 1991. S. XVII; Übersetzung v.d.Hrsg.).
 Einige Grund-Überzeugungen von
    Virginia Satir
      Wachstumsorientierte
    Therapie fokussiert auf Gesundheit und Wahlmöglichkeiten, anstatt auf
    Pathologie.Menschen sind grundsätzlich gut. Damit sie sich mit ihrem eigenen
    Selbstwert verbinden können, brauchen sie Zugang zu ihrem inneren Selbst,
    zu ihren inneren Schätzen.Der Prozess ist der Weg zur Veränderung. Inhalt ist der Kontext, in welchem
    Veränderung stattfindet.Wir haben alle notwendigen Ressourcen, um wachsen zu können.Wir sollten nicht nach Fehlern suchen, sondern nach Erweiterungsmöglichkeiten.Wir können die Vergangenheit nicht verändern, doch deren heutige
    Auswirkungen.Eltern sind Lehrer von Menschen, nicht Besitzer.Eltern wiederholen oft die vertrauten Muster der eigenen Kindheit, auch wenn
    diese Muster dysfunktional sind.Gesunde menschliche Beziehungen beruhen auf 
      Gleichwertigkeit. Hoffnung ist ein signifikantes Element für Veränderung. 
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